"Die Leute sind sehr hartnäckig!". Nichthören und Andershören im deutschsprachigen Raum vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart.

"Die Leute sind sehr hartnäckig!". Nichthören und Andershören im deutschsprachigen Raum vom 19. Jahrhundert bis in die Gegenwart.

Organisatoren
Marion Schmidt, Universität Göttingen; Anja Werner, Universität Erfurt
Förderer
DFG
Ort
Göttingen
Land
Deutschland
Fand statt
Digital
Vom - Bis
21.09.2023 - 26.09.2023
Von
Lisa Maria Hofer, Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte, JKU Linz

Unter dem Titel „Die Leute sind sehr hartnäckig!“ Nichthören und Andershören im deutschsprachigen Raum vom 19. Jahrhundert in die Gegenwart fand am 21. und 26.06. 2023 online ein Workshop des DFG-Netzwerks Gehörlosengeschichte statt. Organisiert wurde die Veranstaltung von PD Dr. Anja Werner von der Universität Erfurt und Marion Schmidt, PhD von der Universität Göttingen. Ziel der Veranstaltung war nicht nur der wissenschaftliche Austausch, sondern auch die Gestaltung eines inklusiveren akademischen Betriebs indem Österreichische Gebärdensprache (ÖGS), Deutsche Gebärdensprache (DGS) und Schriftdolmetschung simultan zu den Präsentationen und Diskussionen angeboten wurden.

Der zweitägige Workshop bot die Möglichkeit zum Austausch der Forschenden untereinander, aber auch interessierte Zuhörer:innen außerhalb des universitären Kontexts konnten teilnehmen. Die Forschenden stellten die Beiträge aus dem neuen geplanten Sammelband des Netzwerkes zur Diskussion. Der Band erscheint voraussichtlich 2024 im Campus Verlag in der disability history Reihe. Alle Beiträge werden auch online als barrierefreie DGS-Videos zugänglich sein. Die Veröffentlichung der Website folgt. Das Rahmenprogramm reichte chronologisch bis ins 19. Jahrhundert zurück und beleuchtete verschiedenste Lebensrealitäten von gehörlosen Menschen: Von alltäglichen Aufgaben, über Bildungsbiografien bis zur Repräsentation in der Erinnerungskultur.

LISA MARIA HOFER (Linz) begann den Workshop mit ihrem Vortrag, der sich mit der Frage auseinandersetze, wie im sogenannten Taubstummeninstitut Linz, Oberösterreich in Österreich, (1812 – 1869) zum einen deafness und zum anderen dis/ability in Abhängigkeit zu sozialer Herkunft und Geschlecht der Schüler:innen sozial und wirtschaftlich konstruiert wurden. Dabei fiel auf, dass besonders das Geschlecht einen Einfluss darauf hatte, mit welcher Häufigkeit Schüler:innen ohne Gehör zusätzlich eine Lernstörung attestiert bekamen. Diese pädagogische Diagnose erschwerte es den Schüler:innen, später in den Arbeitsmarkt einzutreten und verunmöglichte es die Schule abzuschließen.

MARK ZAUROV (Hamburg) behandelte am Beispiel der Gruppe gehörloser jüdischer Menschen die fehlende Vertretung der Gehörlosengemeinschaft in historischen Denkmälern und Institutionen in Deutschland. Er stellte die Frage, warum dies der Fall sei. Ein Grund wurde in der mangelnden Berücksichtigung dieser Gruppe in der Geschichtswissenschaft und Forschung verortet, was sich auch auf die Bildungssituation und die politische Mitgestaltung bis heute auswirkt. Es wurde aufgezeigt, dass Disability Studies und Deaf History unterschiedliche Ansätze zur Erforschung von Behinderung und kultureller Vielfalt verfolgen. Die Wahl der Disziplin beeinflusse die Methoden. Es wurde die Bedeutung von Vielfalt in der Geschichtswissenschaft betont und welche Möglichkeiten es bietet, konsequent mit Ansätzen der deaf history zu arbeiten.

BEATE WINZER (Berlin) bearbeitete die Geschichte von Hör- und Sprachtechnologien im Kontext der Gehörlosigkeit und des Militärs. Dabei wurde die Bedeutung des Hörvermögens für die Kommunikation und den Einsatz von Soldaten im Ersten und Zweiten Weltkrieg betont. Die Forschung konzentrierte sich auf die Entwicklung von Hörgeräten und Technologien zur Verbesserung des Hörvermögens. In der NS-Zeit wurden „Menschenversuche“ auch an Gehörlosen durchgeführt. Nach dem Krieg wurden erste Unternehmen zur Entwicklung von Hörgeräten gegründet, und die Hörakustik entwickelte sich weiter. Die gesellschaftliche Akzeptanz von Schwerhörigkeit und Gehörlosigkeit blieb jedoch gering, und die Inklusion wurde durch die Technisierung gehemmt. Die Bewegung ist bis heute gespalten, und die Pandemie verdeutlichte erneut die Ausgrenzung gehörloser und schwerhöriger Menschen.

NATHALIE ZECHNER (Klagenfurt) stellte sich als hochgradig schwerhörig vor und berichtete über ihre akademische Arbeit an der Universität Klagenfurt. Sie betonte die Bedeutung der korrekten Begrifflichkeit und problematisierte den Begriff „hörbeeinträchtigt“. In der Vergangenheit wurden Schwerhörige oft fälschlicherweise als „taubstumm“ betrachtet und in sogenannten Taubstummenanstalten untergebracht. Die Unterscheidung zwischen Gehörlosen und Schwerhörigen wurde erst im 19. Jahrhundert relevant. Schwerhörige Schüler:innen wurden oft falsch eingeschätzt. Es gab Diskussionen darüber, ob Gehörlose und Schwerhörige gemeinsam oder getrennt unterrichtet werden sollten. Die Entwicklung von Hör-Klassen für Schwerhörige gilt als Wegbereiter für moderne Schwerhörigenschulen. Trotz gesetzlicher Vorgaben in Österreich gibt es immer noch Bildungsbarrieren für Kinder mit Hörminderung. Zechner betonte die Bedeutung von Lehrkräften, Familien, technischen Hilfsmitteln und der Gesellschaft für die Bildung von hörbeeinträchtigten Kindern.

Die Forschung von INES POTTHAST (Hannover) befasst sich mit der jüngeren Vergangenheit. In ihrem Beitrag thematisierte sie die innerfamiliären Bewältigung von Gehörlosigkeit und Cochlea-Implantaten über Generationen hinweg. Dabei wird die Verbindung zwischen Familiengeschichte und gesellschaftlichen Entwicklungen beleuchtet. Potthast verfolgte dabei ein konkretes Fallbeispiel, anhand dessen sie aufzeigte, dass ein Gendefekt, der Taubheit verursacht, eine Rolle in der Familiengeschichte spielt. Die Forschung zeigt, wie Familienmitglieder Bedeutungen und Sinn im Zusammenhang mit Gehörlosigkeit schaffen und verändern. Die Zuschreibungen sind dabei gesellschaftlich, aber auch zeittypisch über die Generationen veränderbar.

Den abschließenden Vortrag des ersten Tages hielt HANNA JAEGER (Göttingen). Die Linguistin führte in historische Gebärdenbeschreibungen und deren Bedeutung für die Erforschung des Gebärdensprachwandels ein. Sie betonte die Schwierigkeiten bei der Analyse von Gebärdensprache im historischen Kontext, da man, zumindest für das 19. Jahrhundert, vornehmlich nur auf Zeichnungen und schriftsprachliche Beschreibungen zurückgreifen könne. Sie diskutierte auch die verschiedenen Bedeutungen des Begriffs „Gebärdensprache“ im historischen Kontext und wie er sich im Laufe der Zeit entwickelte. Abschließend stellte sie historische Beispiele für Gebärden und deren Beschreibungen vor und betonte die Bedeutung von Meta-Kommentaren, um den tatsächlichen Gebrauch von Gebärdensprache zu verstehen. Ziel ist die Entwicklung einer einschlägigen Forschungsdatenbank.

Der zweite Tag begann mit einer Präsentation von ANJA WERNER (Erfurt). In ihrem Beitrag beleuchtete sie die Geschichte des gehörlosen Missionarsehepaars Berta Zuther Foster und Andrew Foster, die 1961 in Nigeria heirateten. Berta war eine gehörlose Schneiderin aus Berlin, die sich in Ghana zur Gehörlosenlehrerin ausbilden lassen wollte, da dies in Deutschland für gehörlose Menschen damals nicht möglich war. Ihr Mann Andrew hatte bereits 1957 eine erste Gehörlosenschule in Ghana gegründet und setzte sich für die Bildung gehörloser Kinder in Afrika ebenso wie für die Gehörlosenlehrer:innenausbildung und Bildungs- und Freizeitprogramme für gehörlose Erwachsene ein. Werner konzentrierte sich in ihrem Beitrag auf Bertas Kindheit und Beschulung im Berlin der Nachkriegszeit. Andrew und seine Mission in Afrika sind heute besser bekannt als Berta, obwohl sie ebenfalls eine bedeutende Rolle in der missionarischen Arbeit für die Bildung gehörloser Afrikaner:innen spielte.

JONATHAN SCHLUNCK (Uppsala) stellte ein laufendes Forschungsprojekt vor, das auf transnationale Netzwerke zwischen Lehrkräften an Gehörlosenschulen in Schweden und Westdeutschland in den Jahren 1950 bis 1980 fokussiert. Der Schwerpunkt lag auf der Untersuchung der räumlichen Gestaltung und materiellen Aspekten dieser Schulen sowie deren Einfluss auf die pädagogische Praxis und das Selbstverständnis der Lehrkräfte und Schüler:innen. Zwei Schulen, die Gehörlosenschule in Bielefeld und eine Schule in Vänersborg, Schweden, werden genauer untersucht, wobei verschiedene Quellen wie Zeitungen, Archive, Schulzeitungen und Museumsobjekte herangezogen werden. Die Forschung zielt darauf ab, das Verständnis dafür zu vertiefen, wie die räumliche Gestaltung den Bildungsbereich für gehörlose Schüler beeinflusste.

SILVIA WOLFF (Berlin) schloss mit ihrem Vortrag über curricularen Wandel direkt an die Thematik der Bildungslaufbahnen von Menschen ohne Gehör an. In ihrer Präsentation ging es um die Entwicklung des Unterrichtsfachs Deutsche Gebärdensprache im Bildungssystem. Die Geschichte reicht bis ins Jahr 1811 zurück, als das Fach „Pantomime“ erstmals in einem Lehrplan auftauchte, aber später aufgrund nationaler sprachlicher Interessen verdrängt wurde. Ab den 1980er Jahren begann eine Bewegung zur Anerkennung der Gebärdensprache und zur Einführung des bilingualen Unterrichts, der sowohl Gebärdensprache als auch Laut- und Schriftsprache umfasst. Dies führte schließlich zur Einführung des Faches Deutsche Gebärdensprache in einigen Bundesländern, aber es gibt immer noch Herausforderungen wie den Mangel an qualifizierten Lehrkräften und die Anerkennung der Gebärdensprachgemeinschaft als sprachlich-kulturelle Minderheit.

JULIANE WENKE (Erfurt) und PAULA MUND (Erfurt) führten die Tagung fort: In ihrem Vortrag diskutierten sie die Herausforderung der Teilhabe von hörgeschädigten Studierenden und Promovierenden im universitären Kontext, basierend auf den Erfahrungen einer hörgeschädigten Frau B. in einem Forschungskolloquium. Es wurde auf Probleme wie kurzfristige Organisation, finanzielle Unsicherheit für Schriftdolmetschende und Kommunikationsbarrieren eingegangen. Lösungsansätze wurden diskutiert, darunter die Verlangsamung des Diskussionsflusses und die Sichtbarmachung des Schriftdolmetschens für alle Teilnehmenden. Die Bedeutung der Sensibilisierung für diese Themen wurde betont, um eine barriereärmere akademische Umgebung zu schaffen.

Die Ausführungen von RADU HARALD DINU (Jönköping) begannen mit seiner Verortung als Wissenschaftler in der historischen Forschung zu Behinderung und als hörender Wissenschaftler. Er untersucht die Debatten über Gehörlosigkeit in Schweden zwischen 1880 und 1929. In Schweden wurde die Geschichte der Gehörlosen bisher hauptsächlich national betrachtet; die Verbindungen zwischen der schwedischen Gehörlosengemeinschaft und anderen europäischen Ländern wurden vernachlässigt. Er betont die Bedeutung deutscher Vorbilder und den kulturellen Einfluss Deutschlands auf Schweden im Untersuchungszeitraum. Er erwähnt, dass die sogenannte „deutsche Methode“ lautsprachlicher Gehörlosenbildung in Schweden zu dominieren begann und Gebärdensprache stigmatisiert wurde, was die Identität und Kultur der Gehörlosen über viele Generationen hinweg beeinflusste. Dieser historische Kontext unterstreicht, dass Schweden, entgegen der landläufigen Meinung, keinen Sonderweg in der Gehörlosenbildung verfolgt hat. Abschließend merkt er an, dass die gesellschaftliche Anerkennung der schwedischen Gebärdensprache ein langwieriger Prozess war und nicht nur auf einen Meilenstein von 1981 zurückzuführen ist, wie oft angenommen wird. Gesetze alleine konnten reale Lebensverhältnisse nicht immer beeinflussen.

Die Vortragsreihe des zweiten Tages schloss JENS GRÜNDLER (Münster) ab. In seinem Beitrag zum Sammelband sprach er über sein Forschungsprojekt zur Geschichte der Gehörlosenpädagogik in Deutschland nach dem Nationalsozialismus. Er analysiert die Verstrickungen von Lehrern (die Mehrzahl war nachweislich männlich) in den NS und deren Positionierung nach dem 2. Weltkrieg und die nur lückenhaft erfolgte Aufarbeitung. Gründler betonte, dass viele Lehrer nach kurzer Entnazifizierung wieder in den Dienst zurückkehrten. Er zeigte, dass Gehörlose häufig über die NS-Zeit schwiegen und die Gründe dafür nicht nur vielschichtig sind, sondern auch noch wenig von der Forschung bearbeitet wurden.

Der Workshop verdeutlichte nicht nur, dass Gehörlosigkeit eine zentrale Untersuchungskategorie für die Geschichtswissenschaft sein kann, sondern auch, dass derzeit noch Bedarf an ihrer Etablierung besteht. Gehörlosigkeit als Perspektive der Forschung ermöglicht es nicht nur, sich spezifischen Lebenswelten anzunähern, sondern auch zu zeigen, wie eine als Minderheit markierte Gruppe am täglichen Leben der Vergangenheit teilnahm. Die hier diskutierten Beiträge zum Sammelband des DFG-Netzwerks verstehen sich nicht nur als Speersitze dieses Vorhabens, sondern wollen konkret aufzeigen, um welche Perspektiven sich die Geschichtswissenschaft selbst bringt, wenn Gehörlosigkeit weiter als „Randphänomen“ behandelt wird. Eine Möglichkeit für die Zukunft könnte auch darin bestehen, sich mit Forscher:innen der Sensual Studies zu vernetzen, die sich dezidiert mit veränderten Wahrnehmungen befassten. Ein besonderes Anliegen des Forschungsnetzwerkes ist es auch, möglichst vielen betroffenen Menschen den Zugang zu den Ergebnissen zu ermöglichen, was sich nicht nur durch die barrierefreie Veranstaltung, sondern auch durch die geplante Vermittlung der Forschungsergebnisse auch über gebärdensprachliche Online-Videos zeigt. In den regen Diskussionen zwischen den Vorträgen und den Austauschrunden wurde dieses Ziel besonders klar.

Konferenzübersicht:

21. September

Lisa Maria Hofer (Linz): Taub geworden, stumm gemacht? Die soziale und wirtschaftliche Konstruktion von körperlicher und kognitiver dis/ability im Taubstummeninstitut Linz 1811 – 1869

Mark Zaurov (Hamburg): Die deutsche Deaf History und ihr Status in der Allgemeinen Geschichtswissenschaft sowie ihre Anwendungsmöglichkeiten im Gegensatz zu Disability Studies am Beispiel der intersektionalen Gruppe: Taube Juden

Beate Winzer (Berlin): Akustik zwischen Wiederherstellung und Optimierung des Menschen

Nathalie Zechner (Klagenfurt): Schwerhörig – und trotzdem dabei. Die Entwicklung der Hörgeschädigtenpädagogik bis zur Schwerhörigenpädagogik

Ines Potthast (Hannover): Gehörlosengeschichte innerfamilial. Eine Fallrekonstruktion von Familiengeschichten von der NS-Zeit bis heute: Gehörlosigkeit, Gebärden und Cochlea Implantat

Hanna Jaeger (Göttingen): Gebärdensprachwandelforschung: eine historische Spurensuche

26. September

Anja Werner (Erfurt): Der Bildungsweg der gehörlosen Missionarin Berta Foster, geb. Zuther (1939-2018): Gehörlosenbildung und Gehörlosenseelsorge im sich teilenden Berlin, 1945-1961

Jonathan Schlunck (Uppsala): Gehörlosenschulen als Orte der Wissensproduktion

Sylvia Wolff (Berlin): Das Unterrichtsfach Deutsche Gebärdensprache als Motor curricularen Wandels

Juliane Wenke / Paula Mund (beide Erfurt): Barrierearme Geschichtsvermittlung und -forschung bei Hörschädigung am Historischen Seminar der Universität Erfurt

Radu-Harald Dinu (Jönköpnig): Gehörlosengeschichte als transnationale Geschichte: Deutsche Einflüsse auf die schwedische Gehörlosenbewegung und Gehörlosenpädagogik

Jens Gründler (Münster): Reformorientierung nach der Katastrophe? Ambivalenzen, Kontinuitäten und Brüche an westfälischen ‚Blinden- und Taubstummenanstalten‘ zwischen 1933 und 1965